Von Timna Michlmayr
Hinter den Herausforderungen im Immobiliensektor steckt ein institutionalisiertes Finanzierungssystem, von dem man nicht abweichen möchte – oder kann
Zusammengefasst muss man Chinas derzeitige wirtschaftliche Lage nach wie vor als „fragil“ bezeichnen. Während Exporte und Importe einbrechen, der private Konsum schwächelt, die Schulden steigen, und die Jugendarbeitslosigkeit so hoch ist, dass die Zahlen nicht mehr publiziert werden, steckt der chinesische Immobiliensektor weiterhin in einer wahrhaftigen Krise. Obwohl der Zahlungsausfall der Immobilienfirma Country Garden unlängst abgewendet werden konnte, ist eine Lösung tiefliegender Probleme in weiter Ferne.
In der Debatte um Chinas Immobilienkrise muss beachtet werden, dass die Probleme des Immobiliensektors tief mit zentralen Institutionen des chinesischen wirtschaftspolitischen Systems, nämlich dem Finanzierungssystem lokaler Regierungen, verwoben sind. Die Krise stellt die chinesische Regierung mitunter deshalb vor enorme Herausforderungen.
Tiefliegende Strukturen
Chinas Immobilienkrise steht in direktem Zusammenhang mit der Schuldenproblematik lokaler Regierungen. Da lokale Regierungen in China ihre Einnahmen zu einem großen Teil durch den Verkauf von Land generieren, bedeutet ein Rückgang der Land- und Häuserpreise immer auch einen Einschnitt in lokale Einnahmequellen, und somit ein erhöhtes Schuldenrisiko. Im Jahr 2022 haben die massiven Abschwünge im Immobiliensektor lokale Einnahmen aus dem Landmarkt um insgesamt 23 Prozent fallen lassen. Der Schuldendruck lokaler Regierungen wurde so groß, dass Gehälter von BeamtInnen nicht mehr bezahlt werden konnten.
Dabei handelt es sich bei der finanziellen Abhängigkeit der Provinzregierungen vom Landmarkt nicht um eine überraschende Entwicklung, sondern um ein lange institutionalisiertes Entwicklungsmodell, an dem die chinesische Regierung bis heute festhält. In Folge einer Steuerreform des Jahres 1994 wurde ein beträchtlicher Teil der Steuereinnahmen lokaler Regierungen an die Zentrale umverteilt, während die Ausgabenverantwortung vermehrt an die Provinzen abgegeben wurde. Um die entstandene Schieflage auszugleichen, haben sich lokale Regierungen den Einnahmen aus dem staatlich kontrollierten Landmarkt zugewandt und Landnutzungsrechte zu horrenden Preisen an Immobilienfirmen verkauft. Zusätzlich wurde es lokalen Regierungen ermöglicht, Schulden auf der Basis künftiger Landverkäufe aufzunehmen. Kurz gesagt hat der Staat darauf spekuliert, dass künftige Einnahmen aus dem Land- und Immobiliensektor die Regierungsschulden von heute bezahlen werden.
Dieses Finanzierungssystem, auch „Land Finance“ (tudi caizheng auf Chinesisch) genannt, war lange ein zentrales Element des chinesischen Wachstumsmodelles. Staatliche Infrastrukturinvestitionen wurden durch Landverkäufe und Kredite, die durch künftige Landmarkteinnahmen gedeckelt waren, finanziert, was als elementarer Wachstumstreiber fungiert hat. Chinas „landzentriertes“ Modell ist jedoch zunehmend zu einem Problem geworden. Vor allem nach der globalen Finanzkrise von 2008 waren immer mehr Regierungsschulden von Einnahmen aus dem Landmarkt abhängig. Gerade in Zeiten eines absteigenden Immobilienmarktes bietet dies Anreize für den lokalen Staat, künstlich Nachfrage am Häuser- und Landmarkt zu schaffen. Beispielsweise haben lokale Regierungen seit 2022 ihr eigenes Land gekauft, um die Land- und Häuserpreise artifiziell in die Höhe zu treiben und ihre Schulden bezahlen zu können.
Trotz dieser Problematiken hat die chinesische Führung das Finanzierungssystem lokaler Regierungen fast dreißig Jahre nach seinem Entstehen nicht reformiert, und Reformvorhaben haben sich auf die Bekämpfung von Symptomen beschränkt.
Schwierige Reformen
Ein Grund für das Ausbleiben großer Reformschritte waren die Vorteile des bestehenden Finanzierungssystems im Vergleich zu seiner Abschaffung, denn eine tiefgreifende Änderung würde grundlegende Reformen des chinesischen politisch-ökonomischen Systems mit sich ziehen.
Einerseits wäre es notwendig, die zentral-lokale Einnahmenverteilung zu reformieren, sodass lokalen Regierungen wieder ein größerer Teil der Steuereinnahmen zuteilwird. Dies wäre jedoch mit einem nicht erwünschten fiskalischen Macht- und Kontrollverlust der Zentralregierung gleichzusetzen. Des Weiteren wäre die lange diskutierte Einführung neuer Steuern gefragt, vor allem einer Immobiliensteuer, um nachhaltigere Einnahmequellen zu schaffen. Erste Versuche der Einführung blieben bis dato auf einzelne Städte begrenzt. Die Reform ist außerdem mit der tiefliegenden Sorge der chinesischen Regierung, der Interessensgruppe der WohnungsteigentümerInnen zu schaden, verbunden. Zudem müsste Chinas sog. Kaderevaluierungssystem, das auf kurzfristige wirtschaftliche Erfolge lokaler Beamter abzielt, grundlegend verändert werden, was sich negativ auf deren Investitionsanreize auswirken könnte. Eine Reform könnte auch die Einschränkung des Monopols lokaler Regierungen am Landmarkt beinhalten, um Marktverzerrungen vorzubeugen. Die volle Privatisierung von Land in China ist jedoch unwahrscheinlich, da sie den Grundprinzipien des chinesischen Sozialismus widerspricht.
Es stellt sich außerdem die Frage, wer die steigenden Schulden lokaler Regierungen am Ende bezahlen wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zentralregierung im Falle eines Bankrotts lokaler Regierungen, der sich auf das gesamte Finanzsystem auswirken könnte, den Regierungen doch unter die Arme greift. Eines ist jedoch klar: je mehr Einnahmen durch den kriselnden Immobilienmarkt verloren gehen und je mehr Schulden dadurch auf der lokalen Ebene entstehen, desto größer der zu bezahlende Schuldenberg. Auch in dieser Hinsicht ist ein Festhalten an alten Strukturen und eine Abwendung langanhaltender Krisen im Immobiliensektor durch kurzfristige Konjunkturpakete die bequemere Lösung.
(Wann) kommt ein neues Modell?
Die meisten BeobachterInnen der chinesischen Wirtschaftslage stimmen überein, dass tiefgreifende Reformen des lokalen Finanzierungssystems unternommen werden müssen, um den Problematiken im Immobiliensektor langfristig entgegenzutreten. Der letzte Forschungsaufenthalt in China im Juni 2023 im Rahmen meiner Dissertation hat gezeigt, dass die Ideen für eine wirkliche Neuordnung momentan begrenzt sind. Obwohl der Begriff des „Überganges“ in ein neues Modell in aller Munde ist, scheint zum jetzigen Zeitpunkt niemand so genau zu wissen, wohin dieser Übergang führt. Je länger China jedoch in dem Status quo verharrt, desto unbequemer die Ausgangslage für weitere Reformen. Langfristig wird man daher nicht umherkommen, das chinesische Wachstumssystem – und damit auch das lokale Finanzierungssystem – auf ein Modell umzustellen, in dem der Immobilienmarkt eine geringere Rolle einnimmt. Während Chinas Fähigkeit zum „muddling through“ (deutsch: „Sich-Durchwurschteln“) nicht unterschätzt werden darf, wäre es nun auch aus Regierungssicht Zeit für wirkliche Reformen.